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Simone Fleischmann zu Inklusion in Schulen Startseite Topmeldung
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„Das ist genau das Gegenteil von Inklusion.“

In der Fernsehsendung „read & talk“ geht es um die Frage, ob gesellschaftliche Teilhabe angesichts leerer Kassen noch leistbar ist. Tenor: Teilhabe ist ein Menschenrecht, kein Luxus. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann: „Wir wissen, dass wir hinterher sind.“

„Ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen einfach ein Luxus, der eben gerade nicht drin ist?“ Diese provokante Frage stellt Anita Read, Moderatorin und ehemalige bayerische Behindertenbeauftragte in ihrer Fernsehsendung „read & talk“. Unter dem Titel „Menschenrecht trifft leere Kassen – Können wir uns Inklusion noch leisten?“ beleuchtet sie verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Mit Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV, spricht sie über das bayerische Schulsystem.

Seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 verpflichtet sich Deutschland dazu, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen als Menschenrecht zu gewährleisten. Dass dafür finanzielle Mittel notwendig sind, ist unstrittig. Für Raul Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, steht aber auch fest: Inklusion ist „kein Nice-to-have“. Im Gespräch mit weiteren Expertinnen und Experten hakt Read nach, wo gesellschaftliche Teilhabe bereits gelingt, und wo noch Nachholbedarf besteht. 

Parallelsysteme widersprechen der UN-Behindertenrechtskonvention 

Mit Blick auf das bayerische Schulsystem erinnert Moderatorin Read an die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention: Menschen dürfen nicht wegen einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Demnach müsste das Schulsystem so ausgerichtet sein, dass gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen möglich ist. In Deutschland sei es jedoch noch immer so, dass mehr Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf an Förderschulen statt an Regelschulen unterrichtet werden.

Vor dem Hintergrund dieses Parallelsystems fragt Read: „Ist das Ziel eigentlich nicht Inklusion an Regelschulen?“ und lenkt den Fokus auf das bayerische Schulsystem: „Bayern ist hier alles andere als ein leuchtendes Beispiel. Doch warum?“ Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV, erklärt: „Wir wissen, dass wir hinterher sind. Ich würde mich jetzt gerne ins Boot nehmen mit allen Lehrerinnen und Lehrern. Wir sehen die Eltern, deren Kinder inklusiven Förderbedarf haben. Und jetzt müssen wir einfach sehen: Wenn es die Parallelsysteme gibt und Eltern überlegen gemeinsam mit dem Schulpsychologen, mit dem Arzt, mit den Lehrerinnen und Lehrern: ‘Wo passt du gut hin?‘ und es gibt die Alternative, dann wird natürlich auch die Alternative angewählt.“

Eine Umfrage des BLLV-Dachverbands VBE im Jahr 2025 betätigt, dass das Thema Inklusion in Bayern ausbaufähig ist: Während im Bundesdurchschnitt 54 Prozent der Lehrkräfte angeben, dass es an ihrer Schule inklusive Lerngruppen gibt, beträgt der Anteil in Bayern nur 33 Prozent. Fleischmann schildert: „Wissen Sie, was wir in Bayern machen? Da gibt es dann Schulen mit inklusivem Profil. Das ist genau das Gegenteil von Inklusion. Dann sind diese Kinder in extra ausgezeichneten, mit Plaketten versehenen Schulen. Also man müsste den Change schaffen: Nicht die Kinder müssen zu den Schulen passen, sondern jede Schule müsste zu jedem Kind passen.“

Lehrkräftemangel bremst Inklusion

Read greift im Gespräch auch das Thema Lehrkräftemangel auf und stellt klar: „8 Prozent der Klassen haben eine Doppelbesetzung, so wie es die UN-Konvention eigentlich auch vorsieht. Das kann so nicht funktionieren.“ Der BLLV macht seit Langem darauf aufmerksam, dass in Bayern Lehrkräfte fehlen, um Kinder und Jugendliche individuell zu fördern.

Die Moderatorin stellt die Frage, ob es Sinn machen würde, die Förderschulen in Bayern abzuschaffen und die Sonderpädagog:innen, die dort tätig sind, auf die vorhandenen Regelschulen zu verteilen. Fleischmann bestätigt, dass der Lehrkräftemangel das Thema Inklusion ausbremst: „In der jetzigen Phase, in der Unterrichtsstunden gespart werden, Substitutionskräfte Mathematik unterrichten, und wir von der Bildungsqualität insgesamt so absinken — alle Studien zeigen das — ist das noch mal mehr eine Herausforderung, als wenn wir genügend Lehrkräfte hätten, die sich dann vielleicht auch mal zu zweit um ein Kind kümmern könnten.“ Dennoch vertritt sie die Ansicht, dass das System in Bayern nicht von heute auf morgen umgekrempelt werden kann.

Wir brauchen mehr Vorbilder und bessere Rahmenbedingungen

Als langjährige Schulleiterin einer Grund- und Mittelschule setzt sie auf Best Practice-Beispiele, die zeigen, wie gemeinsames Lernen gelingen kann. Diese Musterbeispiele gibt es ihrer Meinung nach auch in Bayern. Fleischmann warnt jedoch davor, Lehrkräfte mit der Aufgabe der Inklusion alleine zu lassen: „Und es gibt aber leider eben genau das Gegenteil, wo eine Lehrerin alleine ohne Expertin, ohne sonderpädagogische Kompetenz, ohne MSD [mobiler sonderpädagogischer Dienst], ohne ein Gutachten, ohne eine Psychologin, ohne Unterstützung mit einem zu inkludierenden Kind im Klassenzimmer alleine gelassen wird. Und diese Beispiele führen dann dazu, dass die Eltern sagen ‘Ja, sagen Sie mal, geht's eigentlich noch? Mein Kind wird hier nicht gefördert, ich nehme mein Kind wieder ins Förderzentrum.‘“

Auch wenn die Bedingungen alles andere als optimal sind, ist die BLLV-Präsidentin froh darüber, dass Schulbegleiter:innen eingesetzt werden: „Schulbegleitung ist jetzt in den Regelschulen im Poolingmodell gelungen. Das finde ich zumindest mal einen Schritt. Das war ja für Bayern auch lange nicht denkbar, dass man also einen oder zwei Schulbegleiter hat, die vielleicht für drei oder vier Kinder da sind und nicht immer eins zu eins. Das hat man jetzt gemacht. Da sind wir dankbar.“

Und dennoch: Um echte Inklusion leben zu können, fehlt es an bayerischen Schulen an allen Ecken und Enden, beispielsweise bei der baulichen Barrierefreiheit. Außerdem fordert der BLLV mehr multiprofessionelle Teams an den Schulen sowie Unterstützung für die Lehr- und Fachkräfte, die im inklusiven Setting tätig sind. Fleischmann: „Da hat sich Bayern sehr spät auf den Weg gemacht, um auch die Ausstattung, die Ausbildung und auch die Haltung zu verändern.“

Gesellschaft noch weit entfernt von Integration und Inklusion

Als es um die Frage geht, wer für das langsame Tempo Bayerns verantwortlich ist, wird schnell klar: Die Ursachen sind vielschichtig. Fleischmann analysiert: „Ich würde jetzt fast sagen alle zusammen. Ich behaupte, dass wir weder eine integrative noch eine inklusive Gesellschaft sind. Wir erleben Alltagsrassismus auf der einen Seite und wir erleben Aussortieren von Kindern mit mannigfaltigen Förderbedarfen andererseits. Wir erleben das bei den Lehrkräften, die sagen: ‘Ich kann es nicht. Ich habe es nicht gelernt. Ich bin alleine mit 27 Kindern‘. Und die anderen Kinder sind es nicht gewohnt und die Eltern wollen dieses Kind da nicht und das führt dann andererseits auch dazu, dass andere Eltern von anderen Kindern sagen: ‘Muss denn das sein?‘“  

Read und Fleischmann sind sich einig: Solange wir Förderschulen weiterbauen, wird die Inklusion nicht funktionieren. Wie es gelingen kann, dazu hat Fleischmann eine klare Haltung: „Ich glaube, man braucht, bevor man so einen radikalen Wechsel macht, unbedingt – und da lasse ich nicht locker – das absolute Bekenntnis zu dieser UN-Konvention. Und danach kann ich die ganze Mannschaft mitnehmen.“  

Hier können Sie die ganze Sendung anschauen (Thema Schule ab Min. 16:00)