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Demokratiebildung im interreligiösen Dialog

Politikwissenschaftlerin Havva Doksar spricht im Interview mit BLLV-Präsidentin Fleischmann über ihre aktuelle Forschung zur religiösen Demokratiebildung, wie diese fächerübergreifend gestaltet werden kann, und gibt gleichzeitig Einblicke aus der Praxis.

Fleischmann: Wir freuen uns sehr, dass Sie sich die Zeit nehmen für unser Interview, Frau Doksar. Zu Beginn möchte ich erst einmal mit einem allgemeinen Einstieg starten: Wie divers ist aus Ihrer Sicht unsere Gesellschaft und wie nehmen Sie das Interesse junger Menschen an gesellschaftspolitischen Themen wahr?

Doksar: Ich bin der Meinung, dass in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft, in der wir soziale und politische Umbrüche haben, insbesondere bei Kindern und jungen Menschen das Interesse an gesellschaftspolitischen Themen vorhanden ist. Durch soziale Medien ist der Zugang für sie leichter. Gesellschaftspolitische Themen sind in ihrem Leben präsenter. Man merkt aber gleichzeitig – wenn man sich den Lernort Schule und die Verhaltensweisen junger Menschen anschaut – dass sie einen hohen Wissensbedarf haben. Sie wollen sich austauschen, sie wollen in einen Dialog treten. Sie möchten auch über bestimmte Themen, die sie bewegen, sprechen – politisch, gesellschaftlich oder religiös. Dafür wünschen sie sich Räume, in denen sie offen reden, sich austauschen können und ihre Gedanken im Endeffekt zu Wort kommen. Ich merke auch, dass sie im Rahmen der Demokratiebildung bestimmte Themen in den sozialen Medien sehen und selbst gesehen und gehört werden wollen.

Demokratiebildung als fächerübergreifende Aufgabe

Fleischmann: Wenn wir jetzt über die Implementierung von politischer Bildung sprechen zum Beispiel – da sagt ja jeder, dass dies eines der obersten Bildungsziele sein sollte, und das müsse man unbedingt auf die Agenda Position eins setzen. So wie Sie es jetzt sagen: Kinder, Jugendliche wollen mehr über das, was sie da draußen erleben, reden. Glauben Sie, wir brauchen dann ein extra Unterrichtsfach? Brauchen wir dann einen extra Lehrplan oder am besten eine Schulaufgabe? 

Doksar: Das ist genau das Thema, mit dem ich mich im Rahmen meiner Dissertation auseinandersetze. Und ich möchte diese Fragen noch gar nicht beantworten, weil ich die Antwort gerne von den Lehrkräften hören würde. Ich befrage Lehrkräfte, um zu erfahren, wie sie das Erleben von Demokratie am Lernort Schule wahrnehmen, denn Schule ist ein Lebensraum für Demokratie.

Fleischmann: Das wäre natürlich interessant. Es gibt ja schon einige strukturelle Studien, wie viel Zeit geboten wird für politische Bildung. Auch in den unterschiedlichen Bundesländern. Und natürlich auch wie Sie sagen, wie nehmen Lehrer:innen aus den unterschiedlichen Schularten das wahr? 

Doksar: Aktuell biete ich gemeinsam mit Prof. Dr. Markus Gloe die Veranstaltungsreihe zur Verfassungsviertelstunde am Pädagogischen Institut München an. Und bereits in der ersten Veranstaltung hatten wir einen unglaublich schönen Diskurs mit den Lehrkräften, die uns ihren Input gegeben haben. Sprich die Lehrkräfte möchten eine fächerübergreifende Implementierung von politischer Bildung, allerdings ohne in ihrem eigenen Fach einen zusätzlichen Zeitaufwand zu haben. Sie wollen Wege finden beziehungsweise Möglichkeiten aufgezeigt bekommen, wie sie in ihrem – zum Beispiel Deutschunterricht – die Verfassungsviertelstunde handhaben sollen. Zum Beispiel gleichzeitig Textverständnis und die Implementierung von Demokratiebildung, sodass es nicht nochmal einen zusätzlichen Zeitaufwand und zusätzliche Ressourcen mit sich bringt. Aber die Frage ist, wie kann ich das jeweilige Thema des Faches demokratiebildend gestalten? 

Fleischmann: Sehr schön. Dann wäre das genau die Idee, zu sagen, wo kann jedes Fach mit den Inhalten, aber auch mit der Didaktik und der Methodik dazu beisteuern, dass es der Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe dient? 

Doksar: Ja, wir haben das sogar spontan in den Bildungsprogrammen mit aufgenommen und würden das dann mit Handreichungen ausbauen. Da ich selbst Lehrerin bin, ist es für mich besonders wichtig, dass die Erkenntnisse aus meiner Forschung auch in die Praxis übertragen werden. […] Ich habe auch in dem einen Jahr, in dem ich nun an dem Thema arbeite, Demokratie zu stärken und fächerübergreifende Demokratiebildung zu implementieren, festgestellt, dass Vernetzung unglaublich wichtig ist – die Vernetzung von Forschung, Bildung und Politik. Und diese Vernetzung bedeutet nicht nur Austausch, sondern auch das gegenseitige Verbinden von Ressourcen, die man bereits in bestimmte Bereiche investiert hat. Gleichzeitig geht es darum, Sichtbarkeit zu schaffen. Für mich war es daher unumgänglich, den BLLV in diesen Themenkomplex zu integrieren.

Religiöse Bildung zur Stärkung der Demokratie und Menschenrechte

Fleischmann: Und das wäre jetzt die nächste Frage: Demokratiebildung im interreligiösen Dialog – was verstehen Sie darunter? 

Doksar: Der Ansatz ist folgender: Wir möchten religiöse Bildung aufzeigen – dass sie eine unglaubliche Ressource sein kann, um Demokratiebildung an der Schule zu fördern. Und die Frage ist: Was kann religiöse Bildung zur Demokratiebildung beitragen? Und dabei fokussieren wir die Unterrichtsfächer evangelischer, katholischer Religionsunterricht, Ethik und Islamischer Unterricht. Das Konzept des interreligiösen Dialoges implementiert bereits bestimmte Werte der Demokratie. Demokratische Werte werden dort sichtbar. […] Für die Entwicklung einer Handreichung im europäischen Kontext zur Demokratiebildung im interreligiösen Dialog kommen Fachexpertinnen und Fachexperten unterschiedlicher Disziplinen zusammen. Der Schwerpunkt der Handreichung wird auf den Menschenrechten liegen – auf der Rolle von Menschenrechten in der Religion. Das werden wir dann unter anderem auch auf den Koran und die Bibel beziehen. Ziel ist es auch, interreligiöse Kompetenzen zu fördern: also das Miteinander, das Akzeptieren von Differenzen und Meinungen sowie die Anerkennung von Vielfalt.

Fleischmann: Könnte man das so sagen, dass in allen Religionen die Menschenrechte ganz oben stehen? 

Doksar: Ja, die Menschenrechte werden thematisiert, in allen Weltreligionen. Und wir wollen jetzt wirklich gezielt schauen, welche Aspekte sich konkret in die Unterrichtseinheiten einbinden lassen. Die gesamten Gedanken von Toleranz, Akzeptanz von Vielfalt und Freiheit – all das zielt auf demokratische Werte ab.

Fleischmann: Wenn Sie das jetzt erforschen, meinen Sie, hat es dann strukturelle Konsequenzen in Ihren Aussagen für den Religionsunterricht an den Schulen oder geht das nicht in die Richtung? 

Doksar: Nein, denn jeder möchte sein Unterrichtsfach unterrichten. Als Lehrkraft brennt man für das eigene Fach und wünscht sich, dass es seine Daseinsberechtigung behält – ohne dass zusätzlich etwas dazu gepackt wird. Das ist auch gar nicht notwendig, denn Unterrichtsfächer enthalten in ihren Inhalten bereits die Gedanken von Demokratie.

Braucht es eine veränderte Schulstruktur in der Religionslehre?

Fleischmann: Meine Frage wäre jetzt noch, ob der katholische und der evangelische Religionsunterricht, der Ethikunterricht und der Islamunterricht Silos nebeneinander bleiben sollen oder ob man Veränderungen strukturell herbeiführt? Und das, was Sie jetzt beschreiben, finde ich wunderbar, zu sagen: Meine Berufung. Sozusagen mein Unterrichtsfach. Und das will ich unterrichten. 

Doksar: Das muss man auch akzeptieren. Weil am Ende spielt die Lehrerprofessionalität eine Schlüsselrolle und die Lehrkraft muss den Prozess mittragen. Wir können zwar sagen: Das oberste Bildungsziel ist Demokratiebildung. Das stimmt, und das wissen auch alle Lehrkräfte. Aber trotzdem muss die Lehrkraft, die im Unterricht steht, den eigenen Unterricht vertreten können – selbstverständlich im Rahmen ihrer Professionalität. Die Sorgen von Lehrkräften müssen ernst genommen werden. Also wenn eine Lehrkraft Demokratiebildung in ihr Unterrichtsfach integrieren soll, das nicht Politik ist, braucht sie Zeit, um zu überlegen: Möchte ich das? Wie kann ich das umsetzen? Weil gewillt sind sie ja alle. Aber es gibt auch Unsicherheiten. Manche fühlen sich nicht sicher genug, und dem muss Raum gegeben werden. Daher geht meine Forschung in die Richtung, Lehrkräfte zu sensibilisieren, ihnen Ängste zu nehmen und die Scheu abzubauen. Gleichzeitig soll deutlich gemacht werden: Euer Fach wird dadurch nicht entfremdet.

Fleischmann: Das passt auf so vieles, weil wir ja auch über die Schulstruktur nachdenken. Da haben auch viele Angst, dass man ihnen etwas nimmt. Und das wäre vielleicht bei einem katholischen Religionslehrer auch so. 

Doksar: Ja, religiöse Bildung darf nicht unterschätzt werden, sie ist bei jungen Menschen präsent. Bei Schülerinnen und Schülern spielt religiöse Bildung nach wie vor eine Rolle. Auch ihre Hintergründe, ihre Herkunft und Wurzeln sind damit verbunden. Der Bedarf an religiöser Bildung ist da. Wenn sie in der Schule keinen Raum findet, dann findet sie aber in den sozialen Medien Raum.

Fleischmann: Und oder womöglich dann ungut, weil sie nicht im Dialog ist. […] Und dann geht es darum, wie lernen wir das den Kleinen. Es geht auch um Religion und die Fragen: Woher kommst du, wer bist du? 

Doksar: Selbstverständlich. Es geht um eigene Selbstbestimmung, um die Reflexion der eigenen Religiosität – und im Endeffekt um die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. All das trägt dazu bei, mündige Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft zu werden. Und wenn wir über die Stärkung von Demokratie sprechen, verfolgen wir einen interdisziplinären Ansatz. Das heißt, verschiedene Bereiche kommen zusammen, und dabei ist es entscheidend, die relevanten Akteure einzubeziehen – sei es aus der Wissenschaft, aus der Bildung oder insbesondere die Lehrkräfte. Und all ihre Perspektiven, ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen müssen berücksichtigt werden. […] Und wenn man mit Lehrkräften, wie ich in meiner Forschung, in den Austausch geht, merkt man: Es gibt viele Chancen und Ressourcen, von denen alle Seiten profitieren können. Insbesondere am Lernort Schule. Wenn wir jetzt Lehrkräfte aus dem Religionsunterricht betrachten, unterrichten diese in der Regel mit den Lehrkräften aus Ethik und Islamischem Unterricht parallel. Jede Schule organisiert das zwar etwas anders, aber oftmals ist es genau so. Und die Lehrkräfte profitieren vom Teamteaching und der gegenseitigen Vernetzung. So kommen wir weg vom Bild der Lehrkraft als Einzelkämpferin und Einzelkämpfer – hin zu einem kollegialen Austausch, der wiederum in diesem Kontext gezielt gefördert wird. 

Fleischmann: Absolut. Und das ist dann die Chance und da könnte man auch mal diskutieren: Was braucht es strukturell und was braucht es an Begegnung? Und das, was Sie jetzt sagen, ist Begegnung. 

Praxisbeispiele zur Implementierung von Demokratiebildung

Fleischmann: Haben Sie vielleicht noch ein paar konkrete Praxisbeispiele oder Tipps, wo Sie auch von Lehrkräften die Rückmeldung bekommen, das ist wahnsinnig wichtig, oder das hatten Sie vielleicht noch nicht auf dem Schirm, ist aber sehr hilfreich? 

Doksar: Wenn ich an konkrete Unterrichtsbeispiele denke, ist es sehr schön und prägnant, zum Beispiel im Fach Deutsch das Thema Textverständnis mit der Methode Storytelling zu verbinden, indem man Schülerinnen und Schülern die Aufgabe gibt: „Erzähl eine Geschichte aus deinem Leben, zum Beispiel mit der Frage ‚Wie hast du bis jetzt Demokratie erfahren?‘“ Und da kommen ganz tolle Dinge heraus. Oder wenn man in den interreligiösen Dialog geht, kann man fragen:„Erzähl mir, was bedeutet für dich Glaube?“ Es ist Wahnsinn, was da zum Vorschein kommt. Im Kreativen, etwa bei der Nutzung von Metaphern, gibt es auch spannende Ansätze. Eine Kollegin von mir schreibt gerade eine Dissertation über die Macht von Metaphern und Bildern zur Demokratieförderung an Schulen und beschäftigt sich schon seit Jahren damit. Und ein Beispiel aus ihrer Arbeit ist die Aufgabe: „Male mir die Demokratie.“ Dabei malen Teilnehmende vom Grundschulalter bis zur Erwachsenenbildung die Demokratie – und es entstehen wunderschöne Ergebnisse. Das kann dann wieder vernetzt werden, zum Beispiel indem die Kunstlehrkraft mit der Deutschlehrkraft zusammenarbeitet, die Bilder analysiert und die Metaphern in Texte umsetzt. So sind wir mitten im Bereich Demokratie stärken. Und genau diese Elemente wollen wir neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen in eine Handreichung einfließen lassen, sodass Lehrkräfte den Aha-Effekt erleben und sagen: „Ah, so leicht kann das sein.“

Fleischmann: Ich finde das wunderbar, was Sie machen. Ich sage herzlichen Dank und wünsche Ihnen alles Gute. 

Doksar: Vielen Dank.
 

Havva Doksar ist Politikwissenschaftlerin am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München, u.a. als Leitung des Forschungsgebietes „Demokratiebildung im interreligiösen Kontext“. Sie ist zudem als Lehrkraft für berufliche Schulen bei der Landeshauptstadt München tätig.


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