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Der pädagogische Turn

Sprachstandserhebungen für angehende Grundschulkinder haben durchaus ihre Berechtigung. Aber in der Praxis werden sie für Lehrer:innen, Eltern und Kinder zu einer enormen Herausforderung. Plädoyer für eine echte Wende.

Endlich die frühkindliche Bildung vom Kopf auf die Füße stellen: Den ganzen Menschen von Anfang an im Blick haben, seine Bildungsbiografie ganzheitlich anschauen und fördern. Klingt gut. Auch Sprachstandstests am Übergang von Kita zur Schule haben da eine Berechtigung. Doch so, wie das nun umzusetzen ist, wird das nichts. Manche
sind regelrecht verzweifelt, wie die BLLV-Präsidentin erleben musste.

Neulich in einem Café in München. Ungewollt werde ich Zeugin, wie zwei Mütter mit Migrationshintergrund einander ihr Herz ausschütten. In ihrem Gespräch am Nachbartisch geht es um die eigenen Kinder. Die besuchen die Kindertagesstätte nebenan. Da beginnt eine der beiden Mütter zu weinen. Ich mische mich ein. Und erfahre: Sie machen sich Sorgen wegen der Sprachstandstests. Die entsprechenden Briefe sind in ihrer Herkunftssprache geschrieben, verstanden haben sie trotzdem nichts. Will man unseren Kindern helfen? Will man sie aussortieren? Mit noch nicht mal fünf Jahren? Was machen wir, wenn sie diesen Test nicht bestehen? Dürfen sie dann nicht in die Schule? Wer hilft uns Eltern dann? Und was genau sollen wir jetzt tun?  

All diese Fragen kann ich gar nicht wirklich beantworten. Und bin ich da nicht sowieso in einer völlig verrückten Rolle? Die Menschen verstehen diesen organisatorischen Wahnsinn und den pädagogischen Sinn nicht – und jetzt soll ich’s erklären? Auf einmal werde ich wieder zur Schulpsychologin. Ich versuche, den beiden zu helfen. Kläre Fakten. Beruhige sie. Gebe ihnen am Schluss sogar mein Kärtchen. Jetzt setzt man also den Schwerpunkt auf frühkindliche Bildung. Nicht nur in Bayern, sondern bundesweit. Das Bildungsministerium wird in das Familienministerium integriert. Man hat erkannt, dass es um die gesamte Bildungsbiografie eines Kindes geht und nicht um gesplittete Zuständigkeiten; dass es auf den Anfang ankommt. Also auch auf die Stärkung der frühkindlichen Bildung und der Sprache vor der Schule. Alles gut. Aber kommt das auch so an? Bei diesen beiden Müttern kam an: Unsere Kinder werden von klein auf diskriminiert. Sie meinen, dass nur ihre Kinder jetzt nicht in die Schule dürfen. Sie meinen, dass
nur ihre Kinder so kritisch angeschaut werden. Und fühlen sich nicht dazugehörig. Das kann ich gut verstehen, denn erklären konnte man es ihnen ja auch nicht.

Politisch hat der BLLV alles dafür getan, dass dieses überstürzt eingeführte, wenn auch pädagogisch sinnvolle Verfahren, evaluiert wird. Welche Rolle haben eigentlich die Kolleginnen und Kollegen in der Schule? Welche Expertise spricht man den Erzieherinnen im Kindergarten ab? Welchen Mehraufwand für alle Beteiligten nimmt man in Kauf? Die aktuellen Belastungen bei fehlenden zeitlichen Ressourcen machen es schwer, an diesem Verfahren ein gutes Haar zu lassen.

Im Café ging mir so durch den Kopf: Vorschulkind sein – ist das nicht das Schönste im Leben eines Kindes? Als Schulleiterin habe ich immer in strahlende Augen geblickt, wenn wir das Schulspiel gespielt und irgendwie allen Kindern Lust auf Schule gemacht haben. Und jetzt? Dieses Verfahren macht allen Druck, führt zu Widerständen, beeinflusst unsere Gesellschaft. Die beiden Mamas mit Migrationshintergrund gehen mit dem Gefühl an den Start: Hier in Bayern muss man auf der Hut sein, was mit den eigenen Kindern passiert.

Man muss ihnen immer wieder Mut machen. Wollen wir nicht eine integrative Gesellschaft sein, die alle mitnimmt? Und was machen wir mit diesen kleinen Kindern? Mich lässt das fast sprachlos zurück. Wo es doch gerade um Sprache geht. Wenn wir als Pädagoginnen und Pädagogen sprachlos sind, ein Format wie die Sprachtandstests einfach durchziehen müssen, weil es von oben so gewollt ist, dann fühlen wir uns in unseren Rollen nicht wohl. Und auch nicht mutig. Dabei ist gerade unser Mut gefragt in der heutigen Gesellschaft mit ihren geschürten Ressentiments. Auch der Mut, gemeinsam Hürden zu überwinden.

Eine der großen Hürden, die Kinder nehmen müssen, ist der Sprung in die Schule. Schulspiel und professionelle diagnosegeleitete Förderung, Kinder pädagogisch auffangen, individuell fördern, das können wir. Und wir können ihnen das Gefühl geben, dass sie dazugehören. Alle Kinder sind Kinder, egal woher sie kommen – das ist meine Haltung. Wenn wir diese Haltung leben dürfen, macht ein pädagogischer Turn Sinn. Stellen wir die frühkindliche Bildung endlich wirklich vom Kopf auf die Füße.

>> zur bayerischen schule #3: Lehrerbewegung