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„Kontrollbrille“ hilft nicht beim Lernen

Neues Schuljahr, altes Lern- und Leistungsverständnis: Im Gespräch mit der SZ plädiert BLLV-Präsidentin Fleischmann stattdessen für eine Schule, die Lust auf lebenslanges Lernen macht. Der Lehrberuf müsse zudem attraktiver werden, um Nachwuchs zu gewinnen.

Wissenschaft und Praxis sind sich einig, empirische Studien und schulischer Alltag bestätigen es: Kinder und Jugendliche lernen am besten, wenn ihre Stärken gesehen und entwickelt werden und wenn auf die professionelle differenzierte Diagnose von Lernschwächen eine zielgenaue individuelle Förderung folgt. Also schlicht, wenn Lernfortschritt das oberste Ziel ist und dafür grundlegende Erkenntnisse aus der Motivationspsychologie mit pädagogischem Geschick umgesetzt werden.

Die bayerische Bildungspolitik sieht indes anders aus. Während die Kultusministerin auf Dialog mit Expert:innen setzt und Innovation grundsätzlich nicht scheut, bestimmen Machtworte und Schnellschüsse des bayerischen MP den Alltag: Verfassungsviertelstunde, Sprachstandstests, keine Streichung bei Religionsstunden zugunsten von Deutsch und Mathe dafür aber bei Kunst, Englisch & Co. und zuletzt das präsidiale Machtwort gegen eine breit unterstützte Petition für das Ende von unangekündigten Leistungstests.

Kontrolle als oberstes Motto?

Die Süddeutsche Zeitung stellt zu Beginn des neuen Schuljahrs zurecht die Frage, ob das der richtige Weg ist, um Schülerinnen und Schülern zeitgemäßes Lernen zu ermöglichen. Die Antwort von Interview-Gast Simone Fleischmann ist eindeutig: „Note, Schulaufgabe, Überraschungs-Ex sind Ausdruck eines Leistungssystems, das auf Kontrolle angelegt ist“, sagt die BLLV-Präsidentin. „Wenn du Schule unter der Überschrift Kontrolle lebst, dann passt das gut zusammen. Wenn du Schüler individuell begleiten willst, wenn du willst, dass sie Bock haben zu lernen und das ein Leben lang, dann ist der Blick mit der Kontrollbrille nicht richtig.“

Das sieht auch Angela Wanke-Schopf, stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands (BEV), so: „Für mich gibt es keinen Grund, Kinder so in die Falle tapsen zu lassen. Wir müssen uns eine andere Prüfungskultur aneignen.“

Schmerzhaft oder verständnisorientiert lernen?

Simone Fleischmann begrüßt ausdrücklich, dass die Ministerin die Frage systematisch und faktenbasiert angeht: „Sie hat richtigerweise eine Arbeitsgruppe zu einer veränderten Prüfungskultur ins Leben gerufen, wir Lehrerverbände sind als Experten dabei. Da sollen dieses Schuljahr noch die ersten Ergebnisse raus. Gut so, denn dann ändert sich nicht nur die Art des Feedbacks, sondern auch das prinzipielle Verständnis von Lernen und Leisten!“

Aus Sicht des BLLV ist Bayern hier nicht auf der Höhe der Zeit. „Ich kann noch so aufgeschlossen sein für projektübergreifendes, fächerübergreifendes und verständnisintensives Lernen – wenn ich in dem System lehre, in dem viele Menschen sagen: ‘Leistung muss wehtun, der Fünfer hat noch keinem geschadet, a’ Watschn früher auch nicht‘, dann wird’s damit nichts.“

Sitzenbleiben bleibt pädagogisch sinnfrei

Das zeigte sich zuletzt auch in der Diskussion um den bayerischen Negativrekord bei den Sitzenbleibern. Der BLLV hatte dazu klargestellt, dass das komplette Wiederholen einer Klasse pädagogisch keinen Sinn macht, stattdessen müsse bei Lernschwächen sofort individuell da gefördert werden, wo eben die Lernschwierigkeit besteht.

Die zynische fehlbenannte Ehrenrunde bringt nämlich genau das Gegenteil, erläutert Simone Fleischmann: „Was daran ehrenhaft sein soll, muss mir mal einer erklären! Wir als Pädagogen sehen, dass Sitzenbleiben nachhaltig nicht den Gewinn bringt, nämlich die Schwäche des Kindes auszugleichen. Das Schlimmste dabei ist die Demotivation der Kinder. Wir wissen, dass diese Kinder nach zwei, drei Jahren dort, wo sie die Schwäche hatten, wieder an diese Grenze kommen, weil einfach Wiederholen nicht das bringt, was ein Kind braucht. Man müsste dort mit individueller Förderung ansetzen, wo die Diagnose ein Defizit aufzeigt.“

Lernen muss sich grundlegend ändern

Überhaupt ist man in Bayern schneller mit dem Aussortieren als mit dem Fördern, wie sich auch am frühen, harten Übertritt zeigt. Das Argument der angeblichen Durchlässigkeit des Schulsystems zieht die BLLV-Präsidentin in Zweifel: „Das Schulsystem ist durchlässig, nur leider eher nach unten als nach oben: Auf drei Absteiger kommt ein Aufsteiger! Ein längeres gemeinsames Lernen wäre eine wirkliche Lösung.“

Grundlegender als die Frage nach gemeinsamer Lernzeit und Schulstruktur ist für den BLLV aber das prinzipielle Verständnis von Lernen und Leistung im Sinne bestmöglicher individueller Entwicklung: „Jetzt auf einmal sechs Jahre aus den vieren zu machen, bringt alleine nicht das, was wir wollen“, betont Simone Fleischmann daher und fordert: „Vielmehr muss sich das Lernen grundlegend ändern und somit das Leistungsverständnis.“

Startchancenprogramm verspricht mehr Bildungsgerechtigkeit

Als Leuchtturm nennt Fleischmann dabei die Eichendorff-Mittelschule in Nürnberg-Erlangen, die durch ihr Konzept des materialegeleiteten offenen Lernens, mit guter Diagnostik und passgenauer individueller Förderung und nicht zuletzt mit Konzepten für angstfreies Lernen besonders in Mathematik einen für Mittelschulen höchst ungewöhnlichen Andrang von Schülerinnen und Schülern verzeichnet. Solche Konzepte gelte es zu fördern und zu stärken, zur Nachahmung empfehlen sie sich dann offensichtlich von selbst.

Starke Mittelschulen sorgen dabei auch für mehr Bildungsgerechtigkeit. Denn wenn Eltern aus angespannten sozioökonomischen Verhältnissen Zeit und Geld fehlt, um ihre Kinder schon in der Grundschule zu unterstützen, geht die Bildungsbiografie oft dort weiter.

Dass der Bund Schulen mit besonders herausgefordertem Klientel mit seinem Startchancenprogramm unterstützt, begrüßt Simone Fleischmann: „Das wollte man hier erst nicht haben, aber hat dann kapiert, wenn es für Deutschland gut ist, ist es vielleicht für Bayern auch nicht ganz falsch. Hier werden nun Lehrerstunden den Schulen im Rahmen einer sozialindexorientierten Budgetierung zugewiesen. So hätte man das immer schon machen sollen.“

Sprachförderung bräuchte mehr Profis

Scharf kritisiert die BLLV-Präsidentin die Praxis bei den Sprachstandserhebungen. Die Ansage des MP sei keine bildungspolitische gewesen, sondern eine migrationspolitische: „Die Submessage wurde so empfunden, ‘kannst du kein Deutsch, kannst du nicht zur Schule‘.  Manche haben es sogar so empfunden: ‘Wer nicht Deutsch kann, muss raus.‘“

Auf den populistischen Schnellschuss folgte eine entsprechend überhastete Einführung, die nun fatalerweise in eine Durchführung durch nicht ausreichend qualifizierte Kräfte mündet: „Wir brauchen jetzt zusätzliches Personal für die Vorkurse, die dann wieder an anderer Stelle, etwa bei Kindern der dritten oder vierten Klasse fehlen, weil wir nicht genug ausgebildete Pädagogen haben“, erläutert die BLLV-Präsidentin. „Was machen jetzt also die Schulleiter? Denen bleibt gar nichts anderes übrig, als irgendjemand anders einzusetzen bei diesen Vorkursen. Wenn aber jemand diesen Kindern, die noch ganz andere Probleme als die Sprache haben, helfen soll, damit die gut in die Schule kommen, dann müssten das professionell ausgebildete Pädagogen mit umfassender didaktischer und psychologischer Kompetenz sein!“

Lehrberuf braucht mehr Wertschätzung

Dieser Personalmangel wird alle Schularten noch lange Zeit beschäftigen. Aus Simone Fleischmanns Sicht ein starker Anstoß, den Lehrberuf attraktiver zu gestalten: „Er konkurriert mit Berufen, wo du mehr verdienen kannst, mit Start-ups, wo alles cool und Tschakka-Tschakka mit Homeoffice ist – wo ich also nicht um 7.30 an der Schule sein muss.“

Für den Wettbewerb um den Nachwuchs wären inspirierende Vorbilder hilfreich: „Wir brauchen mehr begeisterte Lehrer“, meint Simone Fleischmann und nennt Bedingungen dafür: „Wenn wir mal zwei Lehrer pro Klasse sind, wenn wir den Kindern individuell helfen können, wenn wir ein Elterngespräch gut führen können, wenn ich eine Ausstattung habe, die cool ist, wenn ich eine ‚Kerze der Gesellschaft‘ bin wie in Finnland, wenn ich wertgeschätzt werde!“

Bildung muss in Bayern höchste Priorität haben

Ein weiterer Baustein für die Nachwuchsgewinnung ist für den BLLV eine moderne Lehrkräftebildung. Präsidentin Simone Fleischmann verweist dazu auf die Ergebnisse einer vom MP einberufenen Expertenkommission, die im Januar in einen „Masterplan Lehrerbildung 2030“ des Kabinetts münden soll. „In dem Gutachten ist so Vieles einer professionellen Lehrerbildung integriert, was die Welt unbedingt braucht“, lobt Simone Fleischmann und fordert: „Jetzt muss man in Bayern nur noch den Mut haben, das umzusetzen und so der Bildung den Stellenwert zukommen lassen, den sie verdient hat – nämlich Prio eins!“

» zum Bericht der Süddeutschen Zeitung: „Schulstart in Bayern: ‘Das Lernen muss sich grundlegend ändern‘“