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Lernen im 21. Jahrhundert sieht anders aus

Zu einer echten Reform der Oberstufe fehlt dem Kultusministerium der Mut. Es bleibt bei Fächerzersplitterung und starrem Wissenskanon statt ganzheitlichem Lernen und Schlüsselqualifikationen.

Mehr als ein Dutzend Experten waren eingeladen bei der Anhörung zur neuen Oberstufe des neunjährigen Gymnasiums im Kultusministerium im Februar. Die Experten durften formulieren, was aus ihrer Sicht Abiturienten heute können müssen, um für Studium und Berufsleben, aber auch für ein Leben als mündige Bürger und glückliche Menschen gerüstet zu sein. Und alle Experten waren sich einig. Keiner, wirklich keiner, ließ einen Zweifel daran, dass heute, in einer immer komplizierteren und sich immer dynamischer verändernden Welt, nicht das Anhäufen von Fachwissen von zentraler Bedeutung sei. Vielmehr sei der Erwerb von Qualifikationen wie Selbstreflexion, Problemlösefähigkeit, Empathie, Teamfähigkeit und Resilienz der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten müssten deutlich stärker Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen können als bisher. Bulimisches Lernen war gestern.

Grundübel der Oberstufe bleibt: Zu viel Stoff in zu vielen Fächern

Der Minister und seine Beamten hatten gut zugehört. Und so verkündeten sie nun ein Konzept für die neue Oberstufe, das individuelle Schwerpunktsetzung und die Möglichkeit zur Vertiefung verspricht. Und tatsächlich: In Zukunft vertiefen die Schüler und Schülerinnen ein Fach ihrer Wahl mit zwei zusätzlichen Wochenstunden. Sie können sogar in Deutsch oder Mathe im letzten Jahr einen zusätzlichen Differenzierungskurs belegen. Aber wenn man dann näher hinschaut, stellt man erstaunt fest, dass das im Prinzip schon alles an Innovation ist.

Am Grundübel der bisherigen Oberstufe, nämlich dass in viel zu viel Stunden und zu vielen Fächern zu viele Inhalte behandelt und dann wieder abgeprüft werden, ändert sich leider gar nichts. Nach wie vor müssen in vier Halbjahren mindestens 132 Wochenstunden belegt werden. Nach wie vor konkurrieren bis zu 13 einzelne Fächer in der Woche um die Aufmerksamkeit der Schüler und Schülerinnen. Was daran ist ganzheitlich?

Es fehlt der Mut

Fächerzersplitterung benötigt viel Zeit, nachhaltigen Unterricht erzeugt sie aber nicht. Projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen sowie echte Schwerpunktsetzung sieht anders aus. Wenn man wirklich etwas Neues will, dann muss man auch den Mut besitzen, mal etwas wegzulassen. Kein Trainer käme auf die Idee, auf Viererkette umzustellen und von seinen Spielern weiter Manndeckung zu verlangen. Was also den Machern der neuen Oberstufe gefehlt hat, ist Mut. Mut, statt in mehr als 15 verschiedenen Fächern in Domänen zu denken. Exemplarisches Lernen bedeutet nun einmal, den einen Lerngegenstand zu wählen um auf den anderen verzichten zu können. Aber wenn man immer auf die Egoismen und Besitzstände von Fächern und den hinter ihnen stehenden Lobbyinteressen Rücksicht nimmt, kommt eben ein politischer Kompromiss und kein wirklich pädagogisches Konzept heraus. So ändert sich Lernen am Gymnasium nie!

Wie ein solches pädagogisches Konzept aussehen könnte, hat der BLLV mit seinen Vorschlägen gezeigt: Weg von der Fächerzersplitterung, hin zu individualisiertem, handlungsorientiertem und realitätsnahem Lernen in Projekten und Modulen, weg von einem starren Wissenskanon hin zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen. Wenn Schüler und Schülerinnen selbstständig und eigenverantwortlich arbeiten sollen, brauchen sie dafür auch den nötigen Raum. Mit 35 Wochenstunden in der 12. Klasse bleibt dafür auch zu wenig Zeit. Auch die Art und Weise der Leistungsmessung muss dringend überdacht werden. Es kann nicht sein, dass die Schüler und Schülerinnen in der Oberstufe von schriftlicher Klausur zu schriftlicher Klausur, von Kurzarbeit zu Kurzarbeit hetzen.

Ganzheitliches Lernen im 21. Jahrhundert sieht anders aus als das, was das Kultusministerium jetzt verkündet hat. Die Experten wurden zwar angehört, erhört wurden sie aber leider nicht! 

Dr. Fritz Schäffer, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik