Max Liedtke, Wolfgang Sosic (2025). Der „Allgemeine Lehrerverein in Bayern“ – Vorgänger des BLLV – Verdammt, verboten, vergessen, geehrt. München: BLLV. ISBN 978-3-00-082484-5, 208 Seiten, 29, 90 Euro.
Die Geschichte der Lehrerverbände in Deutschland ist in groben Zügen bekannt (Bungardt 1965; Heinemann 1977). Wir wissen also, dass die ersten kleinräumigen Zusammenschlüsse von Lehrern im 16. und 17. Jahrhundert erfolgten und die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine ganze Serie von Lehrervereinen hervorgebracht hat (Brinkmann, Arnold 1997). Wessen Interesse der Durchorganisation von Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert gilt und wer daher vor allem die Dynamik des Strukturwandels im Auge hat, mag die Entstehung von Lehrerverbänden als eines unter zahlreichen Beispielen ansehen. Und wer das Wachstum der staatlichen Bürokratie und die dahinter wirkenden Bestrebungen nach Effizienz, Ökonomie und Kontrolle verfolgt und dabei beobachtet, in welchem Ausmaß das Individuum dabei marginalisiert und anonymisiert wird, kann hinter dem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufblühenden Vereinswesen in Deutschland das vielfache Bedürfnis nach Rückzugsorten erkennen. Sie sollen eigene Regeln aufstellen und die Interessen einzelner Gleichgesinnter nach außen sichtbar machen und vertreten. Beim 1823 gegründeten „Allgemeinen Lehrerverein in Bayern“ ist dieses Motiv zwar auch zu erkennen, aber hinzu kommen noch weitere: Professionalisierung, fachlicher Austausch, das Bemühen um soziale Sicherheit und zunehmend die Suche nach einer solidarischen Positionierung gegenüber Öffentlichkeit und Staat.
Zwischen Professionalisierung und Bildungsideal
Damit ist das Forschungsobjekt von Max Liedtke und Wolfgang Sosic aber noch nicht ausreichend beschrieben. An der Vervollständigung des Bildes arbeitet Liedtke seit annähernd 40 Jahren, angetrieben von der „Frage nach der Bedeutung von Erziehung, Unterricht und Schule in der Entwicklung der Gesellschaft und nach der Funktion des ‚Lehrers‘ als ‚Kulturträger‘“ (S. 13). Im „Allgemeinen Lehrerverein“ sieht er „den Anfang eines landesweiten Zusammenschlusses von Lehrern, die ohne staatliche und kirchliche Anordnungen, konfessions- und religionsübergreifend, politisch unabhängig und demokratisch verfasst, sich um die Angelegenheiten von Schule und Lehrerschaft kümmern wollten“ (S. 11).
Im Hintergrund erkennt er den Einfluss von Pestalozzis Bildungsidee: Das Wohl einer Gesellschaft hängt vom Niveau der Bildung aller ab. Ein solcher Gedanke kann aber weder dem Staat noch der Kirche des 19. Jahrhunderts gefallen. Beiden gemeinsam ist ein vertikal strukturiertes Gesellschaftsverständnis. Demokratie bedeutet für sie daher: Der Blick der Menschen richtet sich nicht mehr nach „oben“ auf Thron und Kanzel, sondern auf das Zusammenleben als Gleichberechtigte. Das aber darf nicht sein. So wird der Verein nach neun Jahren seines Bestehens verboten (1832).
Ein Kampf um Anerkennung
Das entmutigt seine Protagonisten nicht. 1845 gründen sie ihn erneut, mit dem verstärkten Anspruch, dass ihre Vorschläge bei der Frankfurter Nationalversammlung gehört werden. 1847/48 stellen sie sich auf die Seite der demokratischen „Revolutionäre“ und entwerfen – auf der Grundlage einer geplanten Denkschrift an den bayerischen König und an den „Minister für Kirchen- und Schulangelegenheiten“ – zusammen mit Kollegen aus der Region einen „Aufruf an sämmtliche Volksschullehrer Baierns“ mit Forderungen nach Gleichstellung mit den anderen Staatsdienern (was auf eine Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht hinausläuft), nach wissenschaftlicher Ausbildung, nach Mitsprache bei der Abfassung von Lehrplänen und nach einer allgemeinen Schulgesetzgebung (S. 40). Die Stellungnahme geht sowohl an das Königliche Ministerium als auch an die Frankfurter Nationalversammlung.
1848 wird aus dem „Allgemeinen Lehrerverein in Baiern“ der „Central-Volks-Schullehrerverein Nürnberg“ (S. 66). Er arbeitet 1849 die zwei Jahre zuvor entworfene „Denkschrift“ aus. Was sie nun über „Allgemeine Volksbildung“, die „Allgemeine Volksschule“ und ihre Fortführung in einer „Fortbildungsschule“, über die „wissenschaftliche Bildung“ der Lehrer, über deren dienstrechtliche Stellung und soziale Absicherung proklamiert, vor allem die Forderung nach der „Trennung von Staat und Kirche“, ist ein Programm, das weit über die damalige Zeit hinausweist. Für „Glanzpunkte der Denkschrift“ hält Max Liedtke „die allgemeinen Aussagen zur ‚allgemeinen Volksbildung‘ und zur ‚Allgemeinen Volksschule‘“ (S. 79).
Der Bayerische Lehrerverein BLV
Den damaligen königlichen und nachgeordneten Behörden geht das alles zu weit. Sie wittern hinter den Forderungen „extreme politische Ansichten“ (S. 107) und reagieren mit den Mitteln autoritärer Herrschaft: Die für verantwortlich Gehaltenen werden eingeschüchtert, strafversetzt oder gar entlassen, der Verein wird verboten, sein Schrifttum eingezogen (1850). Damit sind die Ideen aber nicht auszulöschen. 1861 ruft der Lehrer Karl Heiß zur Gründung eines „Bayerischen Lehrervereins“ (BLV) auf. Er lebt unter abgewandelten Namen (ab 1951 „Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverein“ – BLLV; ab 1965 „Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband“) bis heute fort. Was den Historiker Max Liedtke verwundert: Der Aufruf von 1861 gibt sich als Eröffnung einer neuen Epoche, aber seine Autoren übersehen, vergessen oder ignorieren bewusst, auf welchen ideellen und persönlichen Voraussetzungen er aufbaut. Dieses „Erbe“ zeichnet Liedtke akribisch nach (124ff.) – nicht ohne danach zu fragen, wie es sein kann, dass der heutige Verband offenbar lange Zeit kein Interesse daran hatte herauszufinden, wie tief seine historischen Wurzeln reichen. Dabei hätte er es sich doch zur Ehre anrechnen können, zu seinen Urvätern so bedeutende Persönlichkeiten wie Johann Wolfgang Wörlein und Johann Paulus Scheuenstuhl zu zählen. Insbesondere dem Letztgenannnten widmet Liedtke eine von großem Einfühlungsvermögen getragene Würdigung. Der Autor vermerkt aber auch anerkennend die Verdienste jener im Lehrerverband, die sich seit einigen Jahrzehnten für eine Schließung der historischen Lücke engagiert haben.
Die Menschen die Geschichte schrieben
Das Buch beruht auf einer Arbeitsteilung. Von Max Liedtke stammt die Darstellung der historischen Zusammenhänge, sein Koautor Wolfgang Sosic ist in Form von Kurzbiografien den „Spuren der Vergessenen“ nachgegangen (S. 133ff.), d. h. „den Spuren von Lehrern, deren besondere Auszeichnung darin besteht, dass sie unter Tausenden Lehrern die einzigen sind, die zwei Vereinsverbote miterlebt haben und auch nach dem zweiten Verbot erneut dem wiedergegründeten Lehrerverein beigetreten sind“ (S. 134). So sind 16 Portraits entstanden, jeweils gegliedert (soweit recherchierbar) nach Lebensdaten, beruflichen Stationen, Mitgliedschaft in Lehrervereinen, Veröffentlichungen, Familie, Wohnorten und Zitaten, entweder von den Betreffenden selbst oder aus Kommentaren über sie. Sie bilden nicht nur eine Ergänzung der vorangegangenen Darstellung, sondern in ihnen werden die Menschen sichtbar, ohne die es diese Geschichte nicht gegeben hätte.
200 Jahre Lehrerbewegung
In erster Linie wird der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband den beiden Autoren für ihre aufwendige und akribische Arbeit dankbar sein. Die heutige Präsidentin, Frau Simone Fleischmann, sieht im Ergebnis einen Impuls, sich weiterhin für die Gleichwertigkeit der Lehrämter, eine verbesserte Lehrerbildung und demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten im Bildungswesen einzusetzen, ganz abgesehen vom immerwährenden Bemühen um Bildungsgerechtigkeit (S. 10). Mitglieder des Verbands werden bei der Lektüre vielleicht spüren, dass er für sie nicht nur als standespolitische Interessenvertretung Gewicht hat, sondern auch, weil er sich auf eine inzwischen über 200jährige Geschichte berufen kann, die ihnen eine tiefere Identifikation ermöglicht. Für alle anderen potenziellen Leserinnen und Leser gilt: Die öffentlichen Bildungsmöglichkeiten, die wir so gerne als selbstverständlich erwarten und nützen, beruhen auf Voraussetzungen, die von leibhaftigen Menschen leidenschaftlich und hartnäckig gegen zahllose politische und ideologische Widerstände erstritten worden sind. Max Liedtke und Wolfgang Sosic ist ausdrücklich dafür zu danken, dass sie das anhand der Bayerischen Lehrervereinsgeschichte exemplarisch in Erinnerung gerufen haben. Der informative und durch die Wiedergabe von Bild- und Textdokumenten lebendig eindrucksvolle Blick auf die Vorläufer des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands und ihrer bildungspolitischen Ziele regt zum Nachdenken über aktuelle Wandlungsprozesse des Lehrerberufs und der Institution Schule an. Insofern ist dem Buch eine Verbreitung weit über die Mitglieder des Verbands hinaus zu wünschen.
Von: Prof. em. Dr. phil. Helmwart Hierdeis