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Grenzen setzen gegen Lobbyismus an Schulen und Kitas

Markenprodukte in Kitas, tendenziöses Unterrichtsmaterial von Interessenverbänden und Schulexkursionen zum Supermarkt: Lobbyisten nehmen Kinder und Jugendliche ins Visier. Der Journalist Uwe Ritzer fordert Sensibilität und Mut, Grenzen zu setzen.

Die Anliegen wirken auf den ersten Blick sinnvoll und förderungswürdig: Verkehrserziehung, Ernährungsberatung oder Umweltbewusstsein schulen. Mit solchen Schlagworten bieten Lobbyisten und Interessenverbände Bildungseinrichtungen Partnerschaften an, nicht selten hoch dotiert.

Dahinter stecken meist ausgeklügelte Strategien von hochspezialisierten Kommunikations- und Werbeagenturen, wie der investigative Wirtschaftsjournalist Uwe Ritzer an zahlreichen Fallbeispielen aufgedeckt und in seinem Buch „Lobbykratie – Wie die Wirtschaft sich Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft“ festgehalten hat.

Beim Kamingespräch im Foyer des BLLV illustrierte Ritzer einige besonders irritierende Beispiele, erläuterte die Strategien der Lobbyisten und ermutigte nicht nur zu mehr Sensibilität in Sachen Sponsoring, sondern auch zu mehr Selbstbewusstsein im Setzen von Grenzen. Hier nahm er auch die Politik in die Pflicht und war sich darin mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann einig. Aus seinem Buch zitierte er einige Aufsehen erregende Beispiele:

Ölmulti fördert Gymnasium

So hätte Ölkonzern Exxon Mobil über Jahre eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Sulingen bei Bremen lanciert, in dessen Nähe Exxon die größten Erdölvorkommen Deutschlands fördert. Dem Gymnasium Sulingen bot Exxon neben Sponsoring in Höhe von ca 10.000 € pro Jahr Angebote für Exkursionen, Hilfe bei Facharbeiten und Referaten. Ziel des Konzerns laut internem Papier: „die gesellschaftliche Debatte über die Arbeit der Erdgas/Erdölindustrie versachlichen und Verbesserung der Akzeptanz vor Ort durch die Unterstützung örtlicher Schulen“.

Das Ergebnis laut Erhebung von Exxon Mobil: 57% der Schüler am Gymnasium Sulingen fanden Exxon Mobil gut, 45% sagten, ihre Ansicht habe sich durch Zusammenarbeit verbessert. Fazit des WEG: „Ziel erreicht!“

Besonders brisant, so Ritzer: Die Zusammenarbeit stand unter der Schirmherrschaft des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff. Unterstützung durch politische Mandatsträger erschwere laut Uwe Ritzer oft den kritischen Umgang mit derartigen Initiativen, wie sich auch in der Diskussion nach dem Kamingespräch mehrfach zeigte.

Fahrradhelme im Möbelhaus

Ähnliche Beispiele Ritzers: Das Möbelhaus Porta verschenkte in der „Aktion Helm auf“ Fahrradhelme an Grundschulkinder, die zuvor Besuch von „Schulungsteams“ des Möbelhauses erhielten. Abzuholen waren die Helme im Möbelhaus, wo es neben einem Fahrradparcours und Kinderschminken viel Gelegenheit zum Umsehen nach Möbeln für die nun wohlgestimmten Eltern gab.

REWE lobte 500€ für Schulen aus, wenn 50 Schüler einen örtlichen Supermarkt besuchten und ein Kinderlied sangen, dessen Text in einen Werbesong verwandelt wurde. Laurenz Sports veranstaltet unter dem Motto „Sport, Ernährung und Gesundheit“ sogenannte „Kindersprints“, die dann in Autohäusern oder Einkaufszentren enden. Beim sogenannten „Sprintcheck“ werden als Gewinne Sammelbilder vergeben, die dann in Geschäften im Einkaufszentrum gegen Sachpreise eingetauscht werden.

Lobby-Agentur wirbt mit Kontakten zu 700 Kita-Erzieherinnen

Die Strategie sei laut Uwe Ritzer stets die Gleiche: Nach vorne ein förderungswürdiges Label, in den Aktionen und Events dann teils unverhohlene Produkt-, Marken- und Imagewerbung.

Meister der Verschleierung seien dabei Kommunikationsagenturen wie „Cobra Youth Communications“, die unter Schlagworten wie „Schulmarketing“, „Lernsponsoring“ und „Lernpartnerschaften“ ihren Kunden versprechen, sie hätten das Knowhow „Botschaften von Unternehmen gezielt in Bildungseinrichtungen zu bringen“. Noch mehr: „Wir schaffen einen konkreten Mehrwert für Ihr Unternehmen, indem wir Ihre Interessen mit dem pädagogischen Bildungsauftrag von Schulen kombinieren.“ Konkurrent “KB&B – The Kids Group GmbH & Co KG” brüstet sich, man könne „über 700 Erzieherinnen erreichen“.

Schulen sind leichte Ziele

Dabei verurteilt Uwe Ritzer Lobbyarbeit nicht pauschal. Im ursprünglichen Sinne als Möglichkeit für Politiker, im Vorraum des Parlamentssaals die Wünsche der Allgemeinheit zu hören und in die Debatte einzubringen sei sinnvolle demokratische Praxis. Doch richte sich der Fokus von Lobbyisten inzwischen zunehmend in Richtung der Gesellschaft selbst und ihrer Schalt- und Gestaltungszentralen wie Ministerien, Behörden und eben – besonders zukunftsorientiert – Bildungsinstitutionen.

Schulen und Kitas seien dabei besonders leichte Ziele, da der gesellschaftliche und Eigenanspruch hoch sei, Ausstattung und Finanzierung dem aber selten entspräche.

Tendenziöses Unterrichtsmaterial im Netz

Besonders effektiv sei hier das Angebot von Unterrichtsmaterial via Internet, das 9 von 10 Lehrern nutzen. 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen stellen solche Materialien bereit, deren Urheberschaft nicht immer unmittelbar erkenntlich sei.

VW bietet beispielsweise Unterrichtsmaterialien zu Mobilität und Klimaschutz an, in denen allerdings keinerlei Alternative zum Autofahren vorkommt. Henkel bietet Material zum Thema „Nachhaltig Waschen für eine saubere Umwelt“, in dem vielfach die eigene Marke Persil erwähnt wird.

Uwe Ritzer verweist auf die Pädagogin Prof. Dr. Eva Matthes von der Universität Augsburg: Sie spricht nach einer Untersuchung von 2011-2014 von einem „völlig unübersichtlichem Markt mit völlig unkontrollierbarem Material“, das optisch meist sehr gut aufgemacht sei, da viel Geld dahinterstecke. „Die Spanne reicht von sorgfältig differenzierten und didaktisierten Unterrichtseinheiten bis zu unverhohlener PR“, so Matthes.

Budgets der Lobbyisten explodieren

Angesichts der enormen Budgets, die Lobbyisten aufwenden, stellt Uwe Ritzer fest, dass keine „Waffengleichheit“ mehr gegeben sei.

Das zeige sich auch an der als gemeinnützig anerkannten Initiative „My Finance Coach“, die das Ziel propagiert „Jugendliche innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers für verantwortungsbewussten Umgang zu sensibilisieren.“ Finanziert wird MFC in Höhe von etwa 2 Millionen € jährlich von Spenden des Versicherers Allianz, der die Initiative 2010 in Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung McKinsey gegründet hat, sowie u.a. der Deutschen Börse, DKB, Giesecke & devrient. (weitere Informationen)

Weltanschauliche Verbildung

Die Unterrichtsmaterialien von MFC für 12-Jährige zum Thema finanzielle Vorsorge würden „erst Ängste vor Altersarmut schüren und dann kapitalgedeckte private Altersvorsorge als Allheilmittel propagieren“, analysiert der Sozialwissenschaftler und Autor Prof Dr. Tim Engartner und meint: „Das ist, als würde ein Pharmareferent den Sexualkundeunterricht gestalten oder ein Fast-Food-Restaurant-Leiter die Kinder über Ernährung informieren.“

Doch MFC geht laut Uwe Ritzer noch weiter und biete auf seiner Website ebenso tendenziöse Mitmachangebote für Schüler, schicke Referenten in den Schulunterricht, die für die Finanziers der Initiative arbeiteten, und organisiere sogar Lehrerfortbildungen in Zusammenarbeit mit der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen.

Prof. Dr. Matthes konstatiert, es gebe „kein Unterrichtsmaterial von Unternehmen oder unternehmensnahen Stiftungen, wo nicht zumindest eine weltanschauliche Tendenz dahintersteckte.“ Propagiert werde ein „Bild vom Menschen als Konsumbürger und als Unternehmer seiner selbst.“

Schule schützen, ganzheitliche Bildung fördern

Angesichts solcher Umtriebe, stellt sich Wirtschaftsjournalist Uwe Ritzer ähnliche Fragen zum Selbstverständnis von Schule, wie sie auch die Arbeit des BLLV bedingen:

„Was will und soll Schule sein?“, fragt Ritzer. „Soll sie Allgemeinbildung vermitteln, Herz und Verstand bilden“? Oder geht es nur darum, passgenaue Arbeitskräfte zu produzieren ohne erzieherische und demokratische Aspekte oder einen ganzheitlichen Bildungsbegriff, wo argumentativer Diskurs, konstruktiver Streit und kritisches Nachdenken gewünscht und geübt werden?“

Ritzer spricht sich strikt dagegen aus, „Schultore für Souffleure öffnen, die häufig unwidersprochen ihre eigenen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Ziele verfolgen.“

Wie dies möglicherweise zu verhindern oder zumindest einzuschränken ist, dazu gibt er dem Auditorium eine Checkliste von LobbyControl an die Hand, dem, wie er scherzhaft sagt, „Lobbyverband der Lobbykritiker“. Mit dieser Liste könnten Unterrichtsmaterialien oder mögliche Kooperationen geprüft werden:

  1. Wer steckt dahinter?

  2. Wer finanziert?

  3. Was sind die Interessen/Ziele von Anbieter & Finanzier?

  4. Sind diese Interessen im Inhalt / in der Aktivität vertreten?

  5. Gibt es Alternativen?

  6. Entsteht eine Abhängigkeit der Schule vom Anbieter?

  7. Rücksprache mit Kollegen und Schulleitung halten

  8. Eltern: Im Zweifel Schule ansprechen und rückfragen

  9. Angebote von Lobbyismus-Gegnern nutzen

  10. Auffällige Materialien/Kooperationen publik machen

Eine scharfe Trennlinie, wo sinnvolle Unterstützung für Schulen aufhöre und Lobbyarbeit problematisch wird, lasse sich laut Ritzer aber nicht ziehen – weil es sie nicht gebe.

Die Politik ist gefordert

In der anschließenden angeregten Diskussion ist sich Referent Uwe Ritzer mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann darin einig, dass deshalb der Staat gefordert sei, entsprechende Rahmenbedingungen vorzugeben, sodass nicht am Ende ein Schulleiter „der Dumme“ sei, der entscheidet, ob er einen Vertrag unterschreibe oder nicht.

Dies sei laut Ritzer besonders vor dem Hintergrund der Ausstattungswelle im Rahmen der Digitalisierung an Schulen brisant, da Unternehmen wie Microsoft hier große wirtschaftliche Interessen hätten.

Hierzu verweist Simone Fleischmann auf die Position des BLLV: Er fordert von der Bayerischen Landesregierung eine klare Aussage zu Kooperation mit Firmen wie Microsoft, Apple, Google & Co.: Es sei nicht zeitgemäß, die Marktangebote zu ignorieren und alles auf eigene Faust machen zu wollen, also ausschließlich mebis. Diese Entscheidung könne nicht bei der Schule liegen, sondern müsse explizit „von oben“ freigegeben werden.

Ritzer ermutigt Lehrer und auch Verbände wie den BLLV abschließend, alle Beteiligten zu sensibilisieren, Grenzen zu setzen und „Schulen nicht auf dem Altar der Lobbyisten zu opfern“.

Das Kamingespräch mit Herrn Ritzer und den über 60 Gästen in der Landesgeschäftsstelle des BLLV leistete dazu definitiv einen Beitrag.

Hinweis: Die im obigen Artikel beschriebenen Aktivitäten und deren Einschätzungen wurden so wiedergegeben, wie sie der Referent recherchiert und in seinem Vortrag vorgebracht hat. Die Beurteilungen und Einschätzungen sind ausdrücklich die des Referenten, unabhängig von der Position des BLLV.

Zur Person

Uwe Ritzer, investigativer Wirtschaftsjournalist der Süddeutschen Zeitung und Buchautor, hat die Entwicklung von Lobbyismus intensiv recherchiert und offen gelegt. Gemeinsam mit seinem SZ-Kollegen Markus Balser hat Ritzer das Buch „Lobbykratie“ geschrieben, das ein ausführliches Kapitel zum Thema Lobbyismus an Schulen enthält.

Ritzer, Jahrgang 1965, wurde für seine journalistischen Arbeiten etwa im Fall Mollath oder über den ADAC-Manipulationsskandal mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet, darunter gleich zweimal mit dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse, sowie dem Nannen- und dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis.

Weitere Informationen

Kultusministerium: Handreichungen zum Sponsoring

Zu den KM-Handreichungen: Empfehlungen des BLLV

Recht: Leitfaden Sponsoring

Interview mit Prof Dr. Tim Engartner: Wenn McDonalds in der Schule für Fastfood wirbt

Über die Veranstaltungs-Reihe "Kamingespräch"


Der BLLV lädt regelmäßig Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Politik und Wissenschaft ein, um über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu referieren. Kamingespräch heißt diese Reihe, weil zu diesem Anlass der offene Kamin im Foyer der BLLV-Geschäftsstelle angeschürt wird. Als Gäste gaben sich zuletzt die Ehre: Prof. Dr. Ursula Münch (Akademie für politische Bildung Tutzing), Benjamin Idriz (Imam der islamischen Gemeinde Penzberg), Ulrich Wilhelm (Indendant des Bayerischen Rundfunks), Prof. Dr. Karl Heinz Brisch (Kinder- und Jugendpsychiater).