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Akzente - 3/2023 Positionen
Akzente

Voll am Rad drehen

Mittlerweile ist dem Letzten klar: Es droht keine Bildungskatastrophe, wir stecken mittendrin. Düstere Zahlen und Prognosen liegen längst auf dem Tisch, schlaue Analysen sind so verbreitet wie die Absichtserklärungen aus der Politik. Nach acht Jahren an der Spitze des BLLV hat die Präsidentin aber noch lange nicht fertig, sondern eine ganz klare Botschaft an die eigenen Mitglieder: Steht zusammen, übt Ungehorsam!

Als das Schuljahr 2014 /15 begann, wusste ich noch nicht, dass es mein letztes Jahr als Schulleiterin sein würde. Schule gestalten war wunderbar: Gemeinsam mit einem starken Team Visionen entwickeln, Innovationen umsetzen, konkret handeln, all das hat mir immer richtig Freude gemacht. Im Mai 2015 habe ich mich dann aber entschlossen, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Ich war entschlossen, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im BLLV Schulpolitik zu gestalten. Wollte Visionen für das Ganze entwickeln, Innovationen anstoßen zum Nutzen aller. Das große Rad drehen. Doch nach acht Jahren an der Spitze unseres Verbandes und mitten in dieser fetten Bildungskrise frage ich mich: Dreht das große Rad eigentlich jemand anders? Oder gar keiner?

Als ich Mitte März diese Akzente schrieb, hatte ich gerade eine Woche der besonderen Art hinter mir. Bayerische Bildungspolitik, wie gehabt. Aber auch deutsche Bildungspolitik mit einem – geschmähten – Krisengipfel der Bildungsministerin und einer Kultusministerkonferenz, der ich als Vertreterin des dbb beiwohnte. Dazu die Einlassungen aus der freien Wirtschaft. Und natürlich: Talkshows mit Experten aus der Welt der Medien, die ganz genau wissen, wie Bildung eigentlich geht.  

Bildungspolitik ist also in aller Munde. Und unsere Sicht dazu ist gefragt. Prima. Aber reicht das schon? Als ich hauptamtlich in den BLLV einstieg, ging es mir um mehr. Ich dachte: Die Ideen, die wir in diesem tollen Verband gemeinsam entwickeln, werden Bildungspolitik massiv beeinflussen, eher früher als später wird man unsere Vorschläge umsetzen. Jetzt, vor unserer Landesdelegiertenversammlung 2023, sage ich: Ja, wir haben viel erreicht. Aber nicht genug.  

Klar, wir vom BLLV bleiben dran, dafür stehe ich. Aber wer eigentlich noch? Und wer ist verantwortlich für das Chaos und die Belastungen, denen wir Lehrerinnen und Lehrer, und damit die ganze Schulfamilie, ausgesetzt sind? Alle schreien, Bildung soll Chefsache werden. Im Bund wollen sie, dass der Bundeskanzler Machtworte spricht. In Bayern sind wir schon so weit: Der Landesvater – so sagte man früher noch – hat Bildung längst zur Chefsache gemacht. Und was ist dabei herausgekommen? Freitag, 19. Mai: Auf unserer LDV sind sie alle vertreten, die Chefs. Die Ressortverantwortlichen der Parteien. Der Kultusminister. Der Ministerpräsident. Was erwarten wir? Noch eine schlaue Analyse mehr? Noch mehr warme Worte? Noch mehr Absichtserklärungen? Zum wievielten Mal eigentlich? 

Die Zeit der Analysen ist vorbei. Die Zeit der Schulbesuche auch. Was bringt es uns, wenn die Chefs sich in einer Schule zeigen? Wenn dann aus Staatskanzlei oder KM doch wieder nur verlautet wird, dass insgesamt alles im Lot ist. Wie schräg ist das denn? Wir erleben doch jeden Tag am eigenen Leib einen Lehrermangel sondergleichen. Wir erleben doch die enormen Kompetenzdefizite bei so vielen Schülerinnen und Schülern. Und wir dürfen an unseren Schulen so viele Menschen wie noch nie als Kolleginnen und Kollegen begrüßen, die sich durch kein Lehramtsstudium und durch keine entsprechende Ausbildung qualifiziert haben. Immerhin.

Wir kennen auch die objektiven Zahlen: 384.000 Kita-Plätze fehlen; bis zu 30 Prozent der Viertklässler verfehlen die Standards im Lesen, Schreiben, Zuhören und Rechnen; 47.500 Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss; 51.000 Stellen für Lehrkräfte sind unbesetzt. Glaubt man der KMK, fehlen 23.840 Lehrkräfte in Deutschland bis zum Jahr 2035. Glaubt man dem Bildungsforscher Klaus Klemm, fehlen zwischen 127.120 und 158.320 Köpfe. Aber brauchen wir wirklich noch mehr neue Zahlen? Brauchen wir noch mal jemanden, der ausrechnet, wie viele jetzt aber wirklich fehlen?  

Nein! Wer behauptet, mit uns das große Rad zu drehen, muss endlich dafür sorgen, dass der Schwung an den Schulen vor Ort ankommt. Was wir jetzt brauchen, sind wirksame Maßnahmen. Solche, die uns Lehrerinnen und Lehrer, die wir schon seit  Jahren an der Schule alles retten, nicht noch zusätzlich belasten. Die meisten der bisherigen Maßnahmen sind allenfalls geeignet, die Attraktivität unseres Berufs zu senken. Sie machen uns erst recht fertig. Ein Hohn, wenn die Bundesregierung davon ausgeht, dass die Krise sich sogar verschärfen und erst in 20 Jahren überstanden sein wird, wie ich in meiner besonderen März-Woche erfuhr. Ein Hohn, wenn die KMK die Verbände  aufruft, endlich zu schnallen, dass am Lehrermangel nun mal die Demographie schuld sei.

Nichts da! Wir im BLLV halten an unserer Vision von moderner Bildung, an unseren Konzepten und an unseren Forderungen fest. Wir stehen zusammen, wir machen uns gemeinsam stark. Für eine moderne, nachhaltige Bildungspolitik. Und wir rufen in aller Öffentlichkeit auf zu mehr Mut. Zum Ungehorsam. Wenn nichts mehr hilft, müssen wir eben ungewöhnliche Schritte gehen. Wir drehen das große Rad. Der BLLV bleibt dran! //

Artikel aus der bayerischen schule #3/2023



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