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"Es gibt eine neue Denke"

Im "stern"-Podcast schildert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann die veränderte Rolle von Lehrkräften in Corona-Zeiten, fordert Lösungsorientierung statt Schuldzuweisungen und zeitgemäße pädagogische Konzepte mit realistischer Personalplanung.

„Wie bestehen Schulen den Corona-Test?“ fragt das Magazin „stern“ in der Podcast-Reihe „Wir und Corona“ die BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Entlang derzeit öffentlich mitunter kontrovers diskutierter Themen wie Lernen zuhause, Digitalisierung oder Notbetreuung schildert sie detailgenau die Situation, der sich Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen dieser Tage gegenübersehen, fordert konstruktive Beiträge für gemeinsame Lösungen statt rückwärtsgewandter Schuldzuweisungen und vor allem den Fokus aufs Wesentliche: eine Strategie, um Bildungsinstitutionen so auszustatten, dass sie Kinder und Jugendliche nicht nur befähigen, die momentane Krise zu durchstehen, sondern nachhaltig fit machen für das Leben damit und danach.

Mit Blick auf die vergangenen Wochen gelte zunächst: „Wir müssen erst einmal alles das aufnehmen, was Kinder und Jugendliche in der Krise emotional erlebt haben, das ist mir ganz wichtig!“, betont Simone Fleischmann.

Lernbegleitung und Feedback

Um langfristig Live-Unterricht und die Begleitung des Lernens zuhause zu leisten, würden Kolleginnen und Kollegen sich bereits jetzt neu aufstellen. „Eine neue Rolle als Lehrer ist ins Bewusstsein gerückt, eher  als Coach für Lernprozesse zu Hause“, berichtet die BLLV-Präsidentin. „Diese Rolle reflektiert man: Nicht ich erkläre alles live, sondern ich setze die Schülerinnen und Schüler ins Bild. Sie recherchieren selber, sie gehen selber Lernprozesse, die wir dann miteinander reflektieren, zu denen ich dann Feedback gebe, ob über Videokonferenzen, Papier, E-Mails oder Telefonate. Die Lehrerrolle und die Profession des Lehrers hat eine ganz andere Denke bekommen, als wir das vor Corona erlebt hatten.“

Dabei warnt die BLLV-Präsidentin in der Diskussion um fehlende digitale Infrastruktur und Kritik an unterschiedlich ausgeprägter Digitalkompetenz davor, nicht das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren: „Wir brauchen vor allem Verständnis, dass digitale Kommunikation und digitales Lernen nicht das einzige ist, auf dem wir die Zukunft bauen“, sagt Simone Fleischmann. „Wir brauchen definitiv wieder die Chance, auch im Live Unterricht das zu bieten, worauf Lernen bitte auch fußt: nicht nur auf tollen Plattformen und wunderbaren Tools, sondern es fußt auf Beziehung mit Menschen - zwischen den Kindern und den Lehrern. Es geht uns jetzt viel verloren, wenn wir nur auf das Pferd digitales Lernen setzen. “


Das Gespräch zum Mithören:


Ganzheitlich bilden: Eigenständigkeit als wichtigste Metakompetenz

Gerade beim Kompetenzerwerb komme es darauf an, den Blick zu erweitern: weg von einem funktionalen Bildungsbegriff mit verengtem Fokus auf Fachinhalte und Leistungsmessungen als Sortierkriterium hin zu einem zeitgemäßen Konzept von Schule, das Kinder und Jugendliche als ganze  Menschen wahrnimmt, ernst nimmt und gemäß ihrer Stärken fördert, mit einem ganzheitlichen, phänomenologischem Ansatz des Lernens. Denn nur so lasse sich beispielsweis effektiv die Eigenständigkeit des Lernens vermitteln, das Schülerinnen und Schüler gerade bräuchten:

„Wer eigenverantwortlich lernen kann, hat vom Lernen zu Hause durchaus profitiert“, berichtet Simone Fleischmann. „Er konnte sich nämlich selbst organisiert durch diese Zeit bringen, ohne Mama, ohne Unterstützung vom Vater, ohne den Nachbarn, der Lehrer ist, und unter die Arme gegriffen hat. Hat unsere Schule bis dato Schüler auf so etwas vorbereitet? Nein! Ist es nicht eigentlich Aufgabe, selbstständiges Lernen zu lehren? Ja! Das heißt aber, unser Lernbegriff muss überdacht werden.“ So würden Familien letztlich auch am effektivsten von dem entlastet, was sich derzeit als Kritik an fehlender digitaler Infrastruktur und Kommunikation kristallisiert.

Aufgaben und Ressourcen in Einklang bringen

Im konstruktiven Blick nach vorne sieht Simone Fleischmann die Politik in der Pflicht. Die besten Konzepte für pädagogischen Fortschritt – egal ob bei neuen Unterrichtsformen, modernen Lehrerrollen, Digitalisierung, Kompetenzerwerb oder ganzheitlicher Bildung – nützten nichts, wenn Schulen nicht entsprechend ausgestattet würden, betont Simone Fleischmann:

„Wir Lehrerinnen und Lehrer wollen sehr gerne jeden Tag verlässlich, konstruktiv und mit verschiedenen methodischen Zugängen Schülerinnen und Schüler bilden und erziehen. Deswegen haben wir unseren Beruf erlernt, das ist es, was wir uns wünschen. Wenn es auf Langstrecke so ist, dass Lernen zuhause, Lernen in der Schule und Betreuung gewährleistet werden muss, dann frage ich mich allerdings, wie das Personal dazugewonnen wird. Denn wir haben in ganz Deutschland Lehrermangel, auch schon vor Corona, und jetzt erst recht durch Kollegen in Risikogruppen. Als Lehrerverband ist uns ganz wichtig: Die Strategie, wie wir jetzt im schulischen Setting mit Corona umgehen, muss sich auch nach der Frage ausrichten: Welches Personal kann das vorhalten? Und dann muss sich die politische Strategie danach ausrichten!“

» zum kompletten stern-Podcast
 

Weitere Aussagen von Simone Fleischmann

  • „Es gibt Engpässe, zum Beispiel eine kleine Grundschule mit vier Klassen, in der die einzige stabile Lehrkraft momentan die Schulleiterin ist, die selbst Klassenleiterin der 3. Klasse ist. Die kann den Parallelunterricht, also Homeschooling im Sinne des Begleitens des Lernens zuhause und Präsenzunterricht, in zusätzlicher Kombination mit der Notbetreuung nicht aufrechterhalten. Eine Person reicht dafür nicht. Davon gibt es abgeschwächte Formen, wo die Personaldecke nicht reicht. Deswegen sagt der BLLV ganz klar: Raus mit den Kolleginnen aus der Notbetreuung. Wir sind Lehrerinnen und keine Betreuer.“
     
  • „Wir Lehrer sagen nicht einfach „Das schaffen wir nicht!“  Da muss man jetzt mal die Kirche im Dorf lassen, weil da passieren jetzt ganz viele Schuldzuweisungen, die mich ziemlich aufbringen. Es geht darum, dass die Notbetreuung parallel stattfinden soll zum Live Unterricht, parallel stattfinden soll zum Betreuen des Lernens zu Hause. Ein Lehrer kann sehr professionell eine Aufgabe machen, gerne auch noch eine zweite Aufgabe. Aber spätestens bei der dritten Aufgabe gibt das dann die Zeitressource nicht mehr her. Ich kann nicht von acht Uhr bis 16 Uhr die Notbetreuung aufrechterhalten an einer Schule mit X Schülern, zeitgleich den Präsenzunterricht halten, zeitgleich die Kinder zu Hause in Videokonferenzen betreuen und selbstverständlich am Nachmittag oder Abend dann die entsprechenden Materialien für das Lernen zu Hause zur Verfügung stellen. Das geht weder für die Grund-, Mittel- und Förderschul-Lehrer noch für die Gymnasialkollegen, die teilweise 300 Kinder beschulen, weil sie Fachlehrer sind. Wie soll das funktionieren? Für 300 Kinder Lernen zuhause vorbereiten, betreuen und nachbereiten, zugleich den Präsenzunterricht geben und zugleich in die Betreuung gehen. Das Problem liegt nicht bei dem einzelnen Lehrer, sondern das Problem liegt bei der Staatsregierung, die einen Dreiklang ins Feld führt – und das auch noch so nett bezeichnet –, den wir draußen gar nicht klingend erleben, sondern da erleben wir ganz konkrete No-Gos, weil wir es einfach nicht stemmen können. Deswegen sagt der BLLV ganz klar: Raus mit den Kolleginnen aus der Notbetreuung. Wir sind Lehrerinnen und keine Betreuer.“
     
  • „Die Ansagen, die die Staatsregierung macht, sind nicht an jeder Schule umsetzbar. Jetzt müsste man sich also mal hinstellen vor die Lehrerinnen und Lehrer und vor die Schulleitungen und sagen: „Ihr macht es, so gut es geht!“ Das führt aber natürlich dazu, dass Eltern dann sagen: „Ja, Moment mal, an einer anderen Schule wird es volle Kanne vorgehalten und bei mir nicht!“ Ja, das Personal ist unterschiedlich, die Personaldecke ist unterschiedlich, und die Bedingungen vor Ort sind unterschiedlich. Deswegen ist jede Schule anders. Leider fehlt uns hier ein Stück weit die Rückendeckung der Staatsregierung.“
     
  • „Eltern wollen gerne einheitliche Vorgaben, was das Lernen zu Hause angeht. Ja, die kann man schon vorgeben und sagen, so und so viele Stunden mit Feedbackschleifen, mit dem und dem Material auf der und der Plattform. Dann muss aber eben auch stabiles WLAN für alle gegeben sein. Da muss der Lehrer die Kompetenz haben, da müssen die Kinder die Endgeräte haben. Man kann schon sagen, „Ich verstehe die Eltern“. Die versteht jeder. Wir wollen die Wirtschaft wieder in Gang bringen, selbstverständlich. Wir müssen aber immer auch auf die Bedingungen schauen. Es gibt Schulen, die sind sehr weit, haben ein perfektes digitales Netz und können exzellent digital kommunizieren mit Eltern und Kindern. Dann gibt es aber Schulen, an denen die Kinder eben nicht die Endgeräte haben, nicht die Verlässlichkeit des Netzes haben und auch in keiner Weise psychisch in der Lage sind, stabil zuhause zu lernen. Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit ist ein schöner Wunsch. Aber es wird sie nicht geben.“
     
  • „Es ist die Frage zu stellen, ob das Endgerät das Wichtigste ist. Ich sage erstmal Ja, weil die Bildungsungerechtigkeit sich nicht auch noch über fehlende Ausstattung verschlimmern darf. Es kommen noch viele andere Dinge dazu, warum manche Kinder noch weiter abgehängt wurden in dieser Krise. Ja, das Geld ist gut. Der nächste Schritt ist, sich zu überlegen, welche Tools man verwendet, welche Plattformen? Da haben wir immer datenschutzrechtliche Grabenkämpfe. Die sind plötzlich in manchen Bundesländern nicht mehr so wichtig. Hier in Bayern gibt es jetzt Plattformen, zum Beispiel MS Teams. Das ist flächendeckend für die weiterführenden Schulen genehmigt, war aber lange verboten. Nun gibt es genügend Leute, die sagen „Ja, um Gottes willen, aber doch nicht mit Microsoft!“ Gut, andere Hürde, jetzt versucht man, auch das zu umschiffen – also erst Datenschutz, dann die Abhängigkeit von einzelnen Unternehmen. Jetzt geht es aber noch weiter: Wer kann denn gut digital lehren? Das sind die Lehrerinnen und Lehrer, die diese Tools schon kannten. Und es gibt viele, die sich auf den Weg gemacht haben. Wir haben in unserer Akademie ein Angebot gemacht für Lehrerinnen und Lehrer, wie man das Lernen zu Hause mit interessanten Tools unterfüttern kann. Wir haben das Angebot an einem Tag herausgebracht, am Abend war es bereits voll mit 40 Teilnehmern. Jetzt sind wir beim fünften, sechsten Angebot. Die Not ist groß. Ja, wir Lehrerinnen und Lehrer brauchen hier Expertise.“
     
  • „Auch wir Lehrerinnen und Lehrer können weiter lernen. Es war in den letzten Wochen schon so, dass nicht nur ich als Präsidentin in einem Lehrerverband gelernt habe, auf unterschiedlichen Plattformen zu kommunizieren, sondern auch die Lehrerin hat sich auf den Weg gemacht, wenn sie bisher beispielsweise keine Videokonferenzen genutzt hatte. Es gibt schon jetzt nicht nur Lehrer, die sagen „Ja, da warte ich jetzt mal ab, bis ich von oben muss.“ Nein, auch wir wollen in dieser Welt professionell mitspielen. Wir haben nämlich die Schülerinnen und Schüler in unserem Dialog, die in Zukunft die Welt anders tragen sollen. Übrigens sind die in vielen Feldern wesentlich unkomplizierter, wesentlich weiter, wesentlich affiner. Ich will sagen: Ja, wir brauchen Wege, wie man jetzt möglichst zügig möglichst viele mitnehmen kann. Dazu braucht‘s eigentlich mehr Zeit. Wir scheitern nur gerade daran, dass wir zu wenig Lehrer sind, um diese vielen Aufgaben vorzuhalten.“