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Start des neuen Schuljahres mit neuen und alten Herausforderungen Startseite Topmeldung
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Geht so Bildungsqualität? Vieles bleibt auf der Strecke!

Im neuen Schuljahr bleibt die Personallage angespannt. Der Zickzackkurs der Staatsregierung schafft neue Baustellen bei Digitalisierung, Sprachförderung und Inklusion. Psychische Probleme bei Schüler:innen nehmen zu, ebenso der Druck auf Lehrkräfte.

München – Zum neuen Schuljahr bleiben die alten Herausforderungen erhalten und neue kommen dazu. Der Zickzackkurs der bayerischen Bildungspolitik lässt die Lehrerinnen und Lehrer, die Eltern und Kinder oft im Regen stehen. Und er sorgt zum Beispiel bei der Digitalisierung, bei der Sprachförderung und bei der Inklusion für neue Baustellen, die an den Schülerinnen und Schülern nicht spurlos vorübergehen werden. Einerseits nehmen die psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen drastisch zu und andererseits steigt der Druck auf die Lehrkräfte immer weiter. Teilzeitquoten und Dienstunfähigkeiten erreichen neue Höchstwerte. Außerdem berichten knapp zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen über häufige Erschöpfung. Ist das der bayerische Weg zu mehr Bildungsqualität und mehr Bildungsgerechtigkeit?

„Der ‚Schweinezyklus‘ ist zurück. Einmal sind es zu viele und ein anderes Mal zu wenig Lehrkräfte für die eine oder die andere Schulart. Nach Jahren des Lehrkräftemangels im Grund-, Mittel- und Förderschulbereich kommt jetzt die nächste Welle auf uns zu, im Bereich der Realschulen, der beruflichen Schulen und der Gymnasien. Von einer Entspannung an Grund-, Mittel- und Förderschulen kann aber keinesfalls die Rede sein. Denn der einzige Schlüssel zum echten Bildungserfolg sind individuelle Förderung, passgenaue Differenzierung und das professionelle Auffangen von Stärken und Schwächen. Im Mittelschulbereich sehen wir dabei weiterhin überhaupt kein Land. Die Bildungsqualität bleibt auf der Strecke, zulasten von Eltern, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern. Das kommende Jahr wird die Kolleginnen und Kollegen wieder viel Kraft kosten“, resümiert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann.

Überlastung überall

Die Teilzeitquote unter Lehrerinnen und Lehrern ist so hoch wie nie. Im Schuljahr 2023/2024 lag sie bei 53,7 Prozent, während sich gleichzeitig der Anteil der Ruhestände wegen Dienstunfähigkeit bei den Lehrerinnen und Lehrern an manchen Schularten in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt hat. Auch an Realschulen, Gymnasien und Förderschulen steigt die Zahl der Dienstunfähigkeiten rapide. Nur noch rund 18 Prozent der Pädagoginnen und Pädagogen gehen zur gesetzlichen Altersgrenze oder danach in Pension. Vor zehn Jahren waren das noch rund 60 Prozent. Simone Fleischmann: „Wir sehen hier einfach Tragödien von Lehrerinnen und Lehrern, die sich im System kaputtarbeiten und trotzdem an ihrem Anspruch scheitern, den Kindern alles zu geben, sie zu fördern und zu unterstützen. Die Leidtragenden sind dann auch die Kinder und die Eltern und damit die ganze Gesellschaft.“

Digitalisierung im Schlingerkurs

Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen sehen die Schule als wichtigsten Ort, um digitale Medien zu lernen, und zeigen hohe Motivation beim Lernen mit digitalen Medien. Dass Kinder und Jugendliche sich in einer digitalen Welt sicher, reflektiert und verantwortungsvoll bewegen können, ist ein komplexes und enorm wichtiges Ziel, auch für den Schutz unserer Demokratie. Deswegen haben sich die Schulen im Auftrag der Staatsregierung auf den Weg gemacht, junge Menschen auf die Chancen und Herausforderungen digitaler Welten vorzubereiten.

Alle Schülerinnen und Schüler sollten laut Koalitionsvertrag ab der 5. Klasse mit digitalen Endgeräten ausgestattet werden. Die Bedeutung dieses Wandels ist nicht weniger als ein Kulturwandel hin zu neuen Lern- und Prüfungsmethoden, einem veränderten Unterricht und einer neuen Rolle für die Lehrerinnen und Lehrer. „Dass die Staatsregierung im vergangenen Schuljahr dabei plötzlich eine Kehrtwende hingelegt hat und künftig mobile Endgeräte erst ab der 8. Klasse einführen will, hat für Chaos und Verunsicherungen und nicht zuletzt erneut für Frustration bei den überlasteten Lehrkräften gesorgt, die sich mit der ganzen Rückabwicklung im kommenden Schuljahr fortsetzen wird. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort müssen situativ und nach pädagogischen Kriterien entscheiden können, wann und wie sie ein Tablet oder andere Endgeräte einsetzen wollen. Wir brauchen nicht dauernd neue Frustrationen und sich ändernde Anforderungen, sondern Vertrauen in die Kompetenz vor Ort“, moniert die BLLV-Präsidentin.

Sprachstandserhebungen in Schieflage

Es hat ordentlich geruckelt, als im vergangenen Schuljahr erstmals die verpflichtenden „Sprachstandserhebungen“ für Schulkinder vor der Einschulung durchgeführt wurden. Der BLLV hatte dazu 273 Testerinnen und Tester der Sprachstandserhebungen befragt und das Ergebnis zeigte den enormen Aufwand, die vielen praktischen Fehler und die überbordende Bürokratie des aktuellen Konzepts. Die Kritik des BLLV richtet sich dabei nicht gegen eine diagnosegeleitete Förderung der Kinder, denn ganz im Gegenteil betont der BLLV den großen Stellenwert von Sprachkompetenz und ihrer Förderung für den Zugang zu Bildung und für die Bildungsgerechtigkeit. Nur: Was geschieht jetzt mit den 24.000 Kindern, bei denen ein Förderbedarf festgestellt wurde?

Simone Fleischmann betont: „Erst wenn die 24.000 Kinder exzellente Vorkurse bekommen, ist etwas gewonnen. Nur gibt es keine Vorkurse für so viele Kinder. Und selbst die Vorkurse, die es gäbe, fallen häufig wegen Lehrkräftemangel aus, oder werden von Drittkräften ohne ausreichende pädagogische Ausbildung gehalten. Dass bei all dem Aufwand für die Sprachstandstests am Ende oft nicht einmal Fachpersonal für die Förderung eingesetzt wird, ist beschämend und pädagogisch nicht zu verantworten.“

Inklusion in Bayern bleibt eine Dauerbaustelle

Während an den Förderschulen ein dramatischer Lehrkräftemangel herrscht und zunehmend mehr Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet werden, zeigte eine forsa-Umfrage des BLLV-Dachverbands VBE im Sommer dieses Jahres, wie schlecht diese vor allem in Bayern dafür ausgestattet sind. Oft fehlt es an der nötigen Doppelbesetzung mit einer sonderpädagogischen Fachkraft, am Ausbau multiprofessioneller Teams oder an Unterstützung für die Lehr- und Fachkräfte, die im inklusiven Setting tätig sind. 

So gaben 63 Prozent der Befragten (bundesweit nur 32 Prozent) an, dass es an ihrer Schule keine Doppelbesetzung aus Lehrkräften und sonderpädagogischen Fachkräften gibt. Auch die Unterstützung multiprofessioneller Teams können in Bayern nur 32 Prozent der Befragten wahrnehmen – deutschlandweit immerhin 45 Prozent. Die Anforderungen wachsen, während sich viele Lehrkräfte unzureichend vorbereitet fühlen: Drei Viertel (73 Prozent) der inklusiv unterrichtenden Lehrkräfte gaben an, dass Inklusion in der Ausbildung nicht vorkam, und mehr als die Hälfte (53 Prozent) gibt an, nicht über sonderpädagogisches Wissen zu verfügen. „Hier fehlt es immer mehr an allen Ecken“, wie BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann betont. „Es fehlt an einer zeitgemäßen Ausbildung, es fehlt an vorausschauender Planung, es fehlt an Spielräumen für die Kolleginnen und Kollegen, die täglich ihr Bestes geben. Wenn die Bildungspolitik dabei versagt, die Schwächsten der Gesellschaft zu unterstützen, dann müssen wir uns nicht fragen, weshalb die Kolleginnen und Kollegen vor Ort oft einfach nicht mehr können. Die Herausforderungen, vor denen wir im Bereich der Inklusion auch in diesem Schuljahr stehen, gehen uns alle an und wir alle werden das leider auch im kommenden Jahr wieder merken.“

Die BLLV-Präsidentin ergänzt: “Alle in den Schulen werden die Überlastung des Systems im kommenden Jahr spüren. Beste Bildungsqualität braucht bestausgebildete Lehrkräfte. Wenn überall im drastischen Ausmaß Fachkräfte fehlen, dann braucht die Bildung die Besten! Die Besten bekommen wir aber nur, wenn die Arbeitsbedingungen trotz aller Nöte attraktiver werden, wenn die Staatsregierung das von der Lehrerbildungskommission erarbeitete Konzept Schritt für Schritt umsetzt und wenn die Anerkennung der hoheitlichen Aufgaben der Lehrkräfte ernst genommen wird.“

Medienberichte

Simone Fleischmann im Wortlaut bei RTL:

Schulstart und Lehrkräftemangel:

"Zuallererst ist es natürlich schön, wenn die Schule wieder beginnt. Wenn du wieder in deinem Beruf starten kannst, freust du dich natürlich auf die Kinder, auf die Jugendlichen und darauf, dass du einfach wieder geben kannst, was du kannst. Ein Schulstart ist wie ein Start nach dem Urlaub. Ja, das ist schön. Aber natürlich haben wir auch Sorgen. Wir haben Sorgen, ob wir all die Herausforderungen schaffen. Wir sind zu wenige, vor allem im Grund-, Mittel- und Förderschulbereich schon seit Jahren und jetzt auch im Bereich des Gymnasiums. Und wenn wir zu wenige sind, also wenn zu wenig Personal da ist, dann wirst du den Aufgaben nicht gerecht. Und damit geht es uns natürlich nicht so gut.

Es gibt unterschiedliche Entwicklungen. Man hat in den letzten Jahren gesehen, dass wir im Förderschulbereich, im Berufsschulbereich, im Grundschulbereich und im Mittelschulbereich sehr eng zusammenrutschen mussten. Es sind auch neue Kolleginnen und Kollegen im Einsatz: Seiteneinsteiger, Quereinsteiger, Substitutionskräfte – das haben auch die Kinder bemerkt und das haben auch die Eltern bemerkt. Manche Stunde ist ausgefallen und so geht es jetzt auch weiter. Es gibt jetzt wohl teilweise eine gewisse Entspannung der Situation, aber diese Entspannung werden die Kinder oder auch wir Lehrkräfte nicht wahrnehmen, denn es gibt auch so viele zusätzliche Herausforderungen und je mehr Herausforderungen da sind, desto mehr müsste man eigentlich Personal vorlegen. Das ist aber nicht der Fall."

Bedürfnisse und Situation der Schülerinnen und Schüler:

“Je kleiner ein Kind ist, umso mehr braucht es die Lehrerin oder den Lehrer vom kleinen Zeh bis zur Haarspitze. Ich habe große Bedürfnisse als Kind. Ich will gut sein. Ich habe auch manche Herausforderungen. Vielleicht ist meine Situation zu Hause nicht ganz so einfach. Also diese Kinder brauchen eigentlich mehr als eine Lehrkraft pro Klasse und insofern wird jedes Kind merken, wenn die Kolleginnen und Kollegen unter Druck sind. Wenn wir merken, wir schaffen es nicht, wir hetzen dem Lehrplan hinterher, wir hetzen im Buch zur nächsten Seite. Wir haben irgendwie das Gefühl ‚Oh nein, jetzt muss ich auch noch Verkehrserziehung machen. Oh nein, jetzt fällt noch diese Bewegungs-Halbe-Stunde an und ach, die Verfassungsviertelstunde soll ich noch machen. Die Kinder sollen zu Demokraten erzogen werden‘. Wissen Sie, das sind natürlich alles Dinge und Kompetenzen, die wir mitbringen und von denen wir wissen, dass all das notwendig ist. Aber das kannst du dann halt als Lehrerin oder Lehrer nicht alles geben. Deswegen spüren die Kinder auch unseren Druck.”

Was sich an den Schulen ändern müsste:

"Erstmal müssen wir anerkennen, dass wir nur so viele sind, wie wir eben sind. Und wir können nicht mehr geben, wenn wir den Druck immer mehr erhöhen. Wenn man immer mehr fordert, aber das Personal nicht mehr wird, dann wird dieses Personal krank und nicht glücklich. Deswegen müssen wir alles dafür tun, den Druck rauszunehmen und trotzdem viel Leistung zu bringen. Das ist immer gefragt. Die Kinder brauchen die Bildung, die Erziehung. Was könnte helfen? Mehr Lehrerinnen und Lehrer! Die fallen jetzt aber nicht vom Himmel. Das Schönste wäre, wenn wir Lehrerinnen und Lehrer irgendwann mal ‚Good Storys‘ erzählen könnten davon, wie schön dieser Beruf ist, damit viele junge Menschen sagen ‚Oh ja, ich will Lehrerin oder Lehrer werden‘.”

Der richtige Weg der Digitalisierung an Bayerns Schulen:

“Wir haben durch die Corona Zeit bei der Digitalisierung einen gewissen Booster bekommen und sind dabei ziemlich schnell vorangekommen. Wir hängen aber trotzdem noch hinterher. Es braucht noch mehr Lehrkräftefortbildung, es braucht noch mehr digitale Kompetenz im Bereich des Studiums, damit wir mit guten digitalen Kompetenzen als Lehrerinnen und Lehrer vorangehen. Es fehlt ab und an die Ausstattung, manchmal auch noch das WLAN. Aber eines ist ganz klar: Kinder brauchen digitale Kompetenzen. Wir müssen gut überlegen: Wo braucht es Grenzen? Wo braucht es auch ein Verbot, zum Beispiel vom Handy in der Schule? Und eins ist ganz wichtig und das ist die andere Seite: Es braucht vor allem ganze Lehrerinnen und Lehrer, die voller Energie mit den Kindern in der Schule, in der Beziehung leben. Und da kommt natürlich dann die Digitalität hinzu. Ja, Kinder brauchen Digitalkompetenzen. Kinder brauchen aber vor allem Lehrerinnen und Lehrer mit Herz."